1. Einleitung
Es gibt eine Geschichte, in der einem chinesischen Bauern eine Reihe von Glücks- und Unglücksfällen widerfahren, die dieser jedoch stets gleichmütig kommentiert. Denn er weiß, dass sich die volle Bedeutung eines Ereignisses erst im Rückblick ergibt. Und tatsächlich verwandelt der weitere Gang der Geschichte stets Glück in Unglück und umgekehrt: Die Pferdeherde verschwindet, nur um angewachsen zurückzukehren. Die halb wilden Pferde führen jedoch einen Reitunfall des Sohnes herbei, der ihn allerdings schließlich davor errettet, in die Armee eingezogen zu werden. Vermeintliche fernöstliche Weisheiten mögen wir beiseite schieben, denn das interessante an dieser Geschichte ist, dass sich an ihr zwei gegensätzliche Situationen zeigen lassen – die des Erzählers einer Geschichte und des Menschen, der sich in einer Kette von Ereignissen verwickelt sieht. Der chinesische Bauer weiß, dass die Zukunft größtenteils weder im Bereich seines Wissens noch seiner Macht liegt. Er enthält sich daher einer voreiligen Wertung, da alles noch eine unbekannte Wendung erfahren kann. Jemand, der diese Geschichte erzählt, kennt sie hingegen: Er weiß welche Bedeutung die Ereignisse füreinander haben, welche Konsequenzen aus ihnen jeweils erwachsen und wie sie in ihrer Gesamtheit die Weisheit des Bauern herausstellen. Der Bauer könnte seine eigene Geschichte nicht erzählen, während er sie selbst erlebt, denn dies würde eben jenes Wissen voraussetzen, dessen bewusste Abwesenheit seine Weisheit ausmacht. Zwischen dem Erleben einer von Zufällen und Ungewissheit geprägten Welt und der Souveränität sowie dem überlegenen Wissen des Erzählers in Bezug auf seine Erzählung klafft also ein Abgrund auf.
Weshalb ist dies wichtig und was hat es mit Rollenspiel zu tun? Wenn Rollenspieler Außensehenden ihr Hobby erklären, tun sie dies zumeist, indem sie Vergleiche zu diversen Medien oder Kunstformen anstellen, darunter sowohl dramatische als auch epische, d. h. erzählende Formen. So heißt es etwa, Rollenspiel sei eine Art Improvisationstheater oder aber das gemeinsame Erzählen einer Geschichte. Vieles legt nahe, dass Rollenspiel tatsächlich etwas mit Geschichtenerzählen zu tun hat: Eine Familie von Rollenspielsystemen nennt sich „Storyteller“, was zugleich nach Robin D. Laws einen Spielertyp darstellt, der sich durch eine besondere „erzählerische“ Vorliebe auszeichnet. Eine mittlerweile in die Tage gekommene Rollenspieltheorie macht in dem „Narrativismus“ sogar eine Grundlogik des Rollenspiels überhaupt aus. Oftmals wird der Leiter einer Rollenspielrunde auch als „Erzähler“ bezeichnet. Dies impliziert, dass die Spieler als Zuhörer oder Rezipienten einer Geschichte zu verstehen sind, die von jenem Erzähler erzählt wird. Die ausufernden Kampagnen des bekanntesten deutschen Rollenspiels, die nicht selten mit Passagen zum Vorlesen versehen sind, legen auch von ihrer Struktur her diesen Schluss nahe. Dieser Aufsatz hat das Ziel, jenseits bloßer Geschmacksargumente darzustellen, welche Probleme daraus entstehen, wenn Rollenspiel tatsächlich als Medium zum Erzählen von Geschichten gedacht und praktiziert wird. Der Gegensatz zwischen der Rolle des im Geschehen Befangenen und desjenigen, der von Handlungen und Ereignissen erzählt, ist ein Aspekt des Problems. Weiterlesen